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Az alábbi szöveg korábban a Fritz-Schumacher-Gesellschaft (http://fritzschumacher.de/gesellschaft/baukultur/) honlapján volt elérhetö. A honlap átalakítása óta sajnálatos módon a szöveg ott már nem olvasható, a szöveget ezért itt teszem hozzáférhetövé. Az általános életrajzi és szakmai tevékenységi információk a blog-archívum "Februar" megjelölésü bejegyzésében érhetök el!


 

Bauhaus vorbei, es lebe die europäische Stadt!

100 Jahre Bauhaus – anstelle einer Gratulation

 

János Brenner

 

 

 

 

Der nachstehende Beitrag ist eine bearbeitete Fassung zweier in ungarischer Sprache online erschienener Publikationen des Verfassers zum hundertjährigen Jubiläum des Bauhauses (http://www.magyarszemle.hu/cikk/20190426_a_bauhaus_100_eve_gratulacio_helyett_avagy_abcug_gropius_eljen_sitte_ und http://epiteszforum.hu/abcug-bauhaus-eljen-az-europai-varos), in welchen sich der Autor bewusst etwas polemisch mit dessen städtebaulichen Leitbildern befasst. Wegen einiger Vergleiche zwischen Hamburg und Budapest mag er vielleicht auch für Hamburger Kolleginnen und Kollegen von einigem Interesse sein.

 

 

 

 

Charta und Clochard

 

 

Der Verfasser dieses Textes hat die Befürchtung, dass ihn zumindest ein Teil der Architektur- und Stadtplanungs-Community wegen dessen, was er nachstehend sagen möchte, exkommunizieren wird, er muss es aber riskieren, wobei er gesteht, dass ihn ein wenig auch der Teufel der bewussten Provokation reitet. Ich beginne gleich mit der provokativen These: jetzt, zum 100. Geburtstag des Bauhauses, ist es Zeit, auszusprechen, dass das Bauhaus als innovativer Ansatz von Entwurf und Bau einzelner Gebäude und als wahrhaft hohe Schule des Designs enorme Verdienste hat, aber seine städtebaulichen Prinzipien, die übertriebene Trennung städtischer Funktionen und das Aufgeben der gewachsenen Stadtstruktur tragen nicht zur Entstehung einer lebenswerten und lebendigen Stadt bei – das Bauhaus hat hier mehr geschadet, als genutzt.

 

„Einer der Schlüsselbauten der modernen Architektur dümpelt bis heute als Rostlaube am Quai d'Austerlitz in Paris. Es ist ein ausgedienter Seine-Dampfer, den Le Corbusier 1929 für die Heilsarmee in ein schwimmendes Obdachlosenasyl umbaute. Mit diesem ‚asile flottant’, so spottete der holländische Architekturzyniker Rem Koolhaas, habe Le Corbusier dem idealen Klienten des modernen Bauens ein Denkmal gesetzt: dem Clochard - der sei nämlich nicht anspruchsvoll in Designfragen, lebe gern an der frischen Luft und brauche viel Hygiene.“ (Michael Mönninger: Messerstechereien im Großstadtlabor, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.12.2010) Um Missverständnisse zu vermeiden: Koolhaas wollte hier gewiss keine billige Pointe ausgerechnet zulasten der Obdachlosen zünden, vielmehr nahm er eine der wichtigsten Parolen der sich selbst für modern haltenden Architektur, die Dreifaltigkeit von „Licht, Luft, Sonne” aufs Korn. Diese und ähnliche lebensfremde Ziele haben zu städtebaulichen Konzepten geführt, welche um ein Haar die europäische Stadt selbst umgebracht hätten.

 

Spätestens seit der „Leipzig-Charta“ aus dem Jahr 2007 darf es als gesicherte Erkenntnis gelten, dass die traditionelle, kompakte europäische Stadt, die energiesparende Stadt der kurzen Wege jenes Modell ist, das für die aktuellen Probleme der Stadtentwicklung die besten Lösungsansätze bietet. Heute, da in intellektuellen Kreisen das Bauhaus erneut in Mode kommt, wird es höchste Zeit, die bis heute schädlich wirkenden Theorien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verwerfen, die sich als nachhaltig schädlich erwiesen haben – unter anderem die „autogerechte Stadt“, die „gegliederte und aufgelockerte Stadt“ und ähnliche Theorien, die im Kontext des Bauhauses entstanden waren. Die Leipzig-Charta kann mit einiger Berechtigung als das glatte Gegenteil der Charta von Athen aus dem Jahr 1933 betrachtet werden – allerdings lohnt es sich, zur Kenntnis zu nehmen, dass beide, sehr wirkungsvolle Papiere das Resultat von ganz unterschiedlich zusammengesetzten Kreisen von Autoren waren: erstere wurde auf der Grundlage der Vorbereitung durch Ministerialbeamte unter breiter Beteiligung von Verbänden der kommunalen Selbstverwaltung und der planenden Berufe als politische Absichtserklärung der für die Stadtentwicklungspolitik verantwortlichen Minister der EU angenommen, während letztere das Abschlussdokument eines Architektenkongresses war. Dementsprechend hat sich die Charta von Athen den Problemen der Stadtentwicklung eher von der architektonischen Seite genähert, während die Leipzig-Charta vom „magischen Dreieck“ der nachhaltigen Entwicklung – dem Gleichgewicht der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und des sozialen Zusammenhalts – ausgeht und daraus die räumlichen Konsequenzen ableitet. 1933 waren in Deutschland bereits die Nazis an der Macht und auf ihren Druck hin wurde das Bauhaus in jenem Jahr aufgelöst, aber dessen städtebauliche Prinzipien haben die Charta von Athen stark beeinflusst, wenn auch als maßgeblicher Autor Le Corbusier anzusehen ist.

 

 

Europäische Stadt, lebenswerte Stadt, Zwischenstadt

 

 

Was ist im Übrigen die „europäische Stadt“? Die heutige Zeit neigt zu Schlagwörtern mit 140 Zeichen im Twitter-Stil, obwohl die Sache nicht ganz so einfach ist. Neben der „europäischen Stadt“ sind die Schlagwörter „kompakte Stadt“, „resiliente Stadt“, „lebenswerte Stadt“ und noch viele andere im Umlauf. Es gibt weiterhin heftige Kontroversen mit den – zuvörderst deutschen – Protagonisten der „Zwischenstadt”, die dazu neigen, einen im Grunde städtebaulich inakzeptablen Prozess des räumlichen Zerfalls und der Zersiedlung in den Rang eines normativen Prinzips zu erheben. Es scheint manchmal, als wäre die Heisenbergsche Unschärferelation auch auf die Stadtentwicklung anwendbar: je präziser wir versuchen, die Stadt zu beobachten, umso mehr verändert sie sich unter dem Blick des Betrachters.... Die europäische Stadt ist offensichtlich nicht identisch mit einer geographisch in Europa befindlichen Stadt – Istanbul liegt z.B. zu einem großen Teil in Europa, weist aber mit seinen spontan entstandenen Siedlungsteilen (gecekondu) auch Merkmale der Städte der „dritten Welt“ auf. Unter einer europäischen Stadt verstehen wir im Allgemeinen eine Siedlungsform, die durch ein räumlich klar erkennbares Zentrum mit geschlossenen Straßen- und Platzfronten (in kleineren Städten weiterhin mit der Kirche und dem Rathaus als Dominanten) charakterisiert wird, kulturelle und kommerzielle Einrichtungen in hoher Dichte umfasst und eine zentrale Rolle (nicht zuletzt die des Marktes im übertragenen und im Wortsinne) wahrnimmt. Welche schädlichen Veränderungen muss die europäische Stadt vermeiden? Einige Stichworte dazu: soziale Ausgrenzung, Zersiedlung, Zerstörung der natürlichen und kulturellen Ressourcen, monofunktionales Wachstum; umgekehrt als positive Ziele formuliert: die europäische Stadt braucht eine gemischte Flächennutzung, soziale Vielfalt, einen schonenden Umgang mit den Ressourcen, inklusive Mobilität für alle, eine klare Abgrenzung von bebautem Gebiet und Außenbereich sowie nicht zuletzt öffentliche Flächen von hoher Qualität.

 

Sicherlich gibt es wissenschaftlich deutlich fundiertere Definitionen der europäischen Stadt, aber ich denke, aus dem Blickwinkel des täglichen Gestalters und Nutzers – des Bürgers – der Stadt mag das in erster Näherung genügen, auch wenn wir hier zunächst nur von notwendigen, aber noch nicht hinreichenden Bedingungen sprechen. Eine weitere Voraussetzung der europäischen Stadt ist, folgt man den Gedanken von Hartmut Häußermann, die Tradition und die aktuelle Praxis der Selbstverwaltung, das Bewusstsein der gleichen Rechte der die Gemeinschaft bildenden Bürger. Letzteres haben Le Corbusier und das Bauhaus zwar nicht aktiv geleugnet (obwohl in ihrer eher autoritativen Herangehensweise die Partizipation keine sonderlich große Rolle spielt), sehr wohl aber die räumliche Struktur der europäischen Stadt.

 

 

Die autogerechte Stadt

 

 

Die städtebaulichen Vorstellungen des Bauhauses haben auch ein Charakteristikum, das mit der nachhaltigen Entwicklung, dem Modell der europäischen Stadt der Leipzig-Charta gänzlich unvereinbar ist: die Utopie der 1920er Jahre, in der die sich selbst für modern haltende Stadtplanung extrem auf den individuellen Kraftfahrzeugverkehr, die Geschwindigkeit und die dafür nötigen Schnellverkehrsstraßen gesetzt hat. „Die grossen städtebaulichen Utopien des 20. Jahrhunderts, allen voran Le Corbusiers Ville contemporaine von 1923, wurden für jenen rasanten Autoverkehr konzipiert, der als Symbol und Ausdruck des Fortschritts galt. Und die auf schlichte Volumina reduzierte, karge, dekorationslose Architektur des neuen Bauens war die Antwort auf die hastige, oberflächliche Wahrnehmung, die aus der triumphal zunehmenden urbanen Geschwindigkeit resultierte. Noch in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts ging man generell davon aus, dass der Städtebau in erster Linie mit dem Automobilfahrer zu rechnen hätte (...).” (Vittorio Magnago Lampugnani: Architektur soll wieder langsam werden, Neue Zürcher Zeitung, internationale Ausgabe, 05.02.2019, S. 17) Man ist versucht, hinzuzufügen: mental haben wir uns noch heute, im Zeitalter der Diskussion vom Klimaschutz bis zur stadtverträglichen Mobilität, immer noch nicht davon gelöst. Zum zitierten Text von Lampugnani passt auch die als Idealstadt gedachte „Hochhausstadt”-Utopie von Ludwig Hilberseimer, eines Bauhaus-Lehrers aus dem Jahre 1924. Zwischen vier- bis fünfgeschossigen Gebäudesockeln öffnen sich breite, ausschließlich durch Autos genutzte Straßen, die Fußgänger bewegen sich auf den Flachdächern der Gebäude. Die Fußgängerebene wird durch Brücken über die Straßen miteinander verbunden, aus diesem „Deck“ wachsen die dem Konzept seinen Namen gebenden vierzehngeschossigen Hochhäuser heraus – und dies alles ist in einem streng orthogonalen Netz angeordnet. Derartige Utopien haben nach dem Zweiten Weltkrieg den Stadtbaurat von Hannover, Rudolf Hillebrecht, zum Wiederaufbau im Geiste der „autogerechten Stadt“ inspiriert, mit dessen Folgen – den überdimensionierten, das städtische Gewebe fast unüberwindlich zerschneidenden Schellstraßen, den städtebaulich kaum integrierbaren Parkhäusern – sich die Nachfolger von Hillebrecht und seinen Anhängern immer noch herumschlagen, nicht nur in Hannover. Heute, im Zeichen der Bewegung „Città slow” zu Fuß oder mit dem Fahrrad in der Stadt unterwegs, können wir die Fassadengliederung wieder intensiver wahrnehmen, die Kahlheit der Baumassen hat keinen Sinn mehr. Neben der besseren städtischen Lebensqualität im Sinne der besseren Nutzbarkeit der Stadt können wir deren ästhetischer Qualität im Sinne der Baukultur, eines Schlüsselbegriffs der Leipzig-Charta, mehr Aufmerksamkeit widmen.

 


 

Wien und Hamburg – Karl Ehn und Fritz Schumacher

 

 

Neben alledem gibt es aus dem Zeitalter des Bauhauses auch durchaus gelungene Gegenbeispiele. Als ich 1979/80 als Stipendiat der Baubehörde nach Hamburg kam, hatte ich nur eine sehr vage Vorstellung davon, welche Leistungen der dortige Städtebau in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, namentlich auf dem Gebiet des sozialen Wohnungsbaus, vorzuzeigen hatte. Meine damaligen, überwiegend älteren ungarischen Kollegen haben mit größter Selbstverständlichkeit das Bauhaus oder die durch das Bauhaus inspirierten Schöpfungen als eine Art „Normalmaß“ betrachtet, also z.B. in Dessau die Siedlung Törten, die Berliner Siemensstadt, oder die Weißenhofsiedlung in Stuttgart, um nur sehr bekannte Beispiele zu erwähnen. Solche regionalen Varianten, wie das zum guten Teil dem Oberbaudirektor Fritz Schumacher zu verdankende „rote Hamburg” (das im Gegensatz zum „roten Wien“ keine politische Positionierung bedeutet, sondern auf den konsensualen Gebrauch des der norddeutschen Tradition entsprechenden roten Klinkers hinweist), waren in ihren Augen von vornherein verdächtige, an den sozialistischen Realismus“ der fünfziger Jahre erinnernde Devianzen. Hier einmal abgesehen davon, dass ich selbst bereits damals – unter anderem beeinflusst durch das Europäische Denkmalschutzjahr 1975 des Europarates – ein entschlossener Anhänger der gründerzeitlichen Stadtviertel war, waren meine Vorstellungen vom Großsiedlungsbau der 1920er Jahre – abgesehen von den Berliner, Frankfurter und anderen deutschen Beispielen – von der Wiener Nachbarschaft beherrscht. Hier ragte natürlich der Karl-Marx-Hof von Karl Ehn hervor, der trotz seines Namens und seines dezidiert klassenkämpferischen Bedeutungsgehalts mit seiner massiven Wehrhaftigkeit imponierte. Unterbewusst hatte ich vermutlich auch in Hamburg Ähnliches erwartet – Fachliteratur, aus der ich mich hätte informieren können, war bei meiner damaligen Dienststelle, dem Ungarischen Landesdenkmalamt, kaum verfügbar. Der zentrale Block der von Fritz Schumacher städtebaulich konzipierten Jarrestadt, war mit seiner Öffnung an einer Seite und mit der leichten Biegung der auf den Block zuführenden Straßen zurückhaltend elegant und überraschend: die (überaus erträgliche) Leichtigkeit des Seins ausgerechnet im norddeutschen Hamburg anstelle von Wien, ganz zu schweigen von den bis zur Langeweile gleichen „bauhäuslerischen“ Häuserzeilen in Berlin? Mit einem Wort: ich wurde sofort von jener zivilen Selbstverständlichkeit eingenommen, die dieses Ensemble ausstrahlte, zugleich wurde der Keim des Misstrauens gegen das Bauhaus, Walter Gropius, CIAM und Le Corbusier mitsamt ihrem Umfeld und ihren Konzepten gesät.

 

 

Berlin – James Hobrecht

 

 

Man sollte versuchen, fair zu bleiben: diese Konzepte kamen natürlich nicht von ungefähr zustande, denn die gründerzeitlichen Stadtquartiere des 19. Jahrhunderts hatten in der Tat mit schweren hygienischen und sozialen Mängeln zu kämpfen. (Den Begriff „Gründerzeit“ benutze ich ungeachtet der möglichen Missverständnisse, zu denen er durchaus Anlass geben könnte, in Ermangelung eines besseren, als Bezeichnung für die Ära der Kaiser Franz Joseph und der beiden Wilhelm in Mitteleuropa und von Königin Viktoria in Großbritannien.) Wir sollten nur an die Hinterhöfe der Berliner Arbeiterquartiere denken (deren Mindestmaß seit 1853 vom 5,34 m betragenden Wendekreis des damaligen Standard-Feuerwehrfahrzeugs mit nicht ganz 30 qm vorgegeben worden war, was erst 1887 auf immer noch viel zu wenige 60 qm angehoben wurde!), aber auch die gründerzeitlichen Häuserblocks in Budapest, deren gebäudeinternes Erschließungsprinzip mit dem deutschen Wort „Gang“ für die umlaufenden Laubengänge bezeichnet wurde. Alle diese Stadtquartiere waren spekulationsbedingt viel zu intensiv genutzt. Es fehlten Grünflächen (sie fehlen zum Teil auch heute noch, oder sie werden durch unreflektierte Eingriffe wie z.B. durch das im Budapester „Stadtwäldchen“ geplante Museumsquartier weiter reduziert), teilweise war nicht einmal die Versorgung mit gesundem Trinkwasser gesichert, wie die Cholera-Epidemie in Hamburg 1892 erschreckend gezeigt hat. Die viel zu hohe Wohndichte wurde im Übrigen nicht infolge städtebaulicher Eingriffe und schon gar nicht aufgrund der Ideen des Bauhauses, sondern aufgrund des demographischen Wandels und des steigenden Wohlstands nach dem Zweiten Weltkrieg in Verbindung mit dem steigenden Wohnflächenverbrauch pro Kopf beseitigt.

 

Ein Vorteil der Wohnungen der den Zweiten Weltkrieg – und nicht zuletzt die Abrisswelle nach diesem – überlebenden Gründerzeitquartiere wurde gerade durch eben diesen Wohlstand ans Tageslicht befördert, in dessen Genuss bis dahin nur die Bewohner der repräsentativen Wohnungen der Straßenseite kamen: ihre hohe Flexibilität. Heutzutage kann man in Gründerzeitwohnungen studentische Wohngemeinschaften ebenso vorfinden, wie traditionelle Familien oder Singles. Sie hatten aber auch schon zur Zeit ihrer Errichtung einen Vorteil, der infolge der Gentrifizierung verloren zu gehen droht: das Zusammenleben verschiedener sozialer Schichten buchstäblich unter einem Dach. Ein Mindestmaß an Kommunikation, an Voneinander-Wissen gab es, auch wenn sich zwischen den Bewohnern der Vorder- und der Hinterhäuser soziale Abgründe auftaten. James Hobrecht, der Schöpfer des in der Fachwelt nach ihm benannten städtebaulichen Plans von Berlin aus dem Jahr 1862, war sich dessen bewusst, ja er erwähnt die Berliner „Mietskaserne“ als bewusstes Gegenbeispiel zur in England zu beobachtenden quartiersweisen sozialen Segregation – stark idealisiert schreibt er darüber: „In der Mietskaserne gehen die Kinder aus den Kellerwohnungen in die Freischule über denselben Hausflur wie diejenigen des Rats oder Kaufmanns, auf dem Wege nach dem Gymnasium. Schusters Wilhelm aus der Mansarde und die alte bettlägerige Frau Schulz im Hinterhaus, deren Tochter durch Nähen oder Putzarbeiten den notdürftigen Lebensunterhalt besorgt, werden in dem ersten Stock bekannte Persönlichkeiten. Hier ist ein Teller Suppe zur Stärkung bei Krankheit, da ein Kleidungsstück, dort die wirksame Hilfe zur Erlangung freien Unterrichts oder dergleichen und alles das, was sich als das Resultat der gemütlichen Beziehungen zwischen den gleichgearteten und wenn auch noch so verschiedenen situierten Bewohner herausstellt, eine Hilfe, welche ihren veredelnden Einfluss auf den Geber ausübt. Und zwischen diesen extremen Gesellschaftsklassen bewegen sich die Ärmeren aus dem II. oder IV. Stock, Gesellschaftsklassen von höchster Bedeutung für unser Kulturleben, der Beamte, der Künstler, der Gelehrte, der Lehrer usw., und wirken fördernd, anregend und somit für die Gesellschaft nützlich. Und wäre es fast nur durch ihr Dasein und stummes Beispiel auf diejenigen, die neben ihnen und mit ihnen untermischt wohnen.“ (Hobrechts Text wird mit einem kritischen Kommentar zitiert  von Werner Hegemann, Das steinerne Berlin, Berlin 1930, S. 232)

 

 

Olmütz und Reichenberg – Camillo Sitte

 

 

Die Gefahren der zu hohen Dichte wurden von mehreren Akteuren erkannt, aber praktikable Vorschläge, die bei deren Beseitigung die Urbanität, das geschlossene Straßenbild, das „Drinnen und Draußen“, d.h., die klare Unterscheidung der öffentlichen Räume von der allenfalls nur halböffentlichen Sphäre der Blockinnenhöfe hätten erhalten und das Auflösen der Stadt zu einer Pseudogartenstadt der Großsiedlungen hätten vermeiden können, gab es nur wenige. Zu den Autoren solcher Vorschläge gehört der Wiener Architekt und Stadtplaner Camillo Sitte (1843-1903), dem die deutsche Sprache nicht nur den allgemeinen Gebrauch des Begriffs „Städtebau“ zu verdanken hat, sondern mit seinem epochalen Pamphlet „Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen” (in der Erstausgabe von 1889 noch mit Bindestrich) die Urbanistik revolutioniert hat. Während in der Fachwelt zumindest der Titel des Buches von Sitte allgemein bekannt ist, tritt die Rezeption seiner praktisch-planerischen Tätigkeit dahinter weit zurück. Nach der Aufhebung des Festungscharakters von Olmütz (Olomouc, Tschechien) im Jahre 1886 hat er in seiner städtebaulichen Planung eine Blockrandbebauung vorgeschlagen, die mit der relativ geringen Tiefe der Blöcke einer spekulativen Überverdichtung entgegenstand. Der Vorschlag wurde später, obwohl er nicht realisiert wurde, unter dem Begriff „Olmützer System“ bekannt und inspirativ für die städtebauliche Praxis. In seiner späteren Planung für Reichenberg (Liberec, Tschechien) konnte er mit Modellrechnungen nachweisen, dass dieses System durch die Steigerung der Grundstückswerte auch für Investoren recht attraktiv sein konnte. Sitte wurde von seinen Kritikern häufig vorgeworfen, dass er sich nur für die künstlerische Seite des Städtebaus interessiere, wie dies auch vom Titel seines berühmten Buches suggeriert wird, hingegen hat er hier nachgewiesen, dass er sehr wohl ein praxistauglicher Stadtplaner war.

 

Das Lebenswerk von Sitte blieb ein Torso (seine Planungen für Reichenberg und andere Städte wurden nur sehr bruchstückhaft umgesetzt), es bleibt aber sein Verdienst, dass er Struktur und Textur der Stadt vom Grundstück über die Straße und den Platz bis zum Quartier ins öffentliche Bewusstsein gehoben und gleichsam die städtebauliche Raumbildung wieder in ihre Rechte eingesetzt hat. Seine Ideen wurden von solchen „Kalibern“ wie z.B. Joseph Stübben, dem Schöpfer des gründerzeitlichen Köln, aufgegriffen. Der Schweizer Stadtplaner Jürg Sulzer benutzt bei der Annäherung an das Idealbild der zeitgenössischen Stadtentwicklung gerne den Begriff „Bürgerstädtebau” in dem Sinne, dass der sein Haus bewusst im städtebaulichen Kontext errichtende Bürger Ausgangspunkt jeder Planungsüberlegung ist. Das Werk von Camillo Sitte gehört zu den Voraussetzungen dieser Sichtweise.

 

 

Zürich, Budapest, Tel Aviv

 

 

Es lohnt sich, auf das Forschungsprogramm einzugehen, das von Sulzer gemeinsam mit seiner Mitarbeiterin Martina Desax geleitet wurde (Sulzer, Jürg / Desax, Martina: Stadtwerdung der Agglomeration. Die Suche nach einer neuen urbanen Qualität. Synthese des Nationalen Forschungsprogramms „Neue Urbane Qualität“, Zürich: Scheidegger & Spiess 2015). „Die heutigen Agglomerationen und Stadtrandsiedlungen bieten in ihrer großen Mehrheit ein Bild gestalterischer Zufälligkeit (…). Ihnen fehlen übergeordnete Gestaltungsideen, die zu Schönheit und Lebensqualität von Stadt- und Ortsteilen beitragen könnten.“ (Sulzer / Desax, S. 59) Einen neuralgischen Punkt berühren die Forscher, indem sie der Frage nachgehen, „ob die Ursache des nach wie vor ungebremsten Trends zum Einfamilienhaus am Stadtrand (…) nicht auch darin gesehen werden müsste, dass der seit einem knappen Jahrhundert praktizierte, anonyme Siedlungsbau der Moderne kaum Veränderungen erfahren hat. Ebenso wäre (…) zu prüfen, ob die Zersiedlung möglicherweise auch Ergebnis eines fehlenden raumbildenden Städtebaus ist. Und es gilt zu bedenken, dass aufgrund des Platzmangels in den historischen Innenstädten oft gar keine andere Möglichkeit besteht, als den Wohnort an den Stadtrand zu verlegen. (…) In den wachstumsorientierten Städten werden Höchstpreise für innenstadtnahe Miet- und Eigentumswohnungen, vor allem in den dicht und kompakt bebauten Gründerzeitquartieren bezahlt. Es ist offensichtlich, dass die Nachfrage nach Wohnungen in urbanen Stadtensembles mit einer hohen baulichen und nutzungsmäßigen Dichte, besonders in den Innenstädten, nach wie vor ungebrochen hoch ist. Eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger wird sich allerdings unter den derzeitigen wirtschaftlichen Bedingungen kaum eine Wohnung in den Innenstädten leisten können.“ (ebd., S. 61) Es liegt also an der Hand, dass Urbanität, Diversität, Lebendigkeit als Qualitätsmerkmale in die suburbanen Quartiere gleichsam exportiert werden müssen. Sulzer und Desax formulieren mit den Begriffen „raumbildender Städtebau“ (ebd., S. 61), „Raumgeborgenheit“ und „Körperlichkeit des Stadtquartiers“ (ebd., S. 64) auch ein Programm, das teils auch explizit in Form von Verweisen die verheerenden Wirkungen von Bauhaus und CIAM im Städtebau darlegt. Die von wenigen Ausnahmen – wie etwa im Hamburg Fritz Schumachers – abgesehen manifeste Unfähigkeit des „Neuen Bauens“ und seiner Nachkriegsadepten zur städtebaulichen Raumbildung dürfte in der Tat eine der Ursachen der gegenwärtigen Probleme sein. Salopp formuliert: Le Corbusier und Gropius sind out, Sitte und Stübben sind in – und das ist keine Banalität, sondern eine sich immer wieder und hartnäckig im aktuellen Baugeschehen bestätigende Erfahrung. „Parzellenbildung und Parzellenbebauung, Wiedereinführung von Baufluchten, Baulinien, Adressbildung an der Straße und die Lage der Häuser, die den Stadtraum ideenreich fassen, bieten in ihrer Gesamtheit eine Fülle inspirierender Gestaltungskriterien zur Stadtwerdung und zur raumbildenden Körperlichkeit der Stadt in ihrer baugeschichtlichen Tradition“, wie Sulzer und Desax es als einen der Lösungsansätze formulieren (ebd., S. 80).

 

An dieser Stelle höre ich schon förmlich den Einwand des aufmerksamen Budapester Spaziergängers: und die Neue Leopoldstadt (Újlipótváros) auf der Pester Seite, oder ein guter Teil von Lágymányos auf der Budaer Seite – sind die etwa nicht Bauhaus, oder zumindest „Neues Bauen”, wie im deutschen Sprachraum der Sammelbegriff für die „moderne” Architektur lautet? Und außerhalb von Budapest: zum Beispiel Tel Aviv? Finden wir nicht etwa gerade dort eine Schöpfung der von den Nazis aus Deutschland vertriebenen Architekten des Bauhauses im Maßstab eines Stadtviertels? Meine Antwort: ja, aber wenn wir all diese Stadtquartiere genau betrachten, sind sie als Architektur in der Tat modern und, wenn man so will, gebaut im Bauhaus-Stil (auch wenn die Kreativen des Bauhauses die Einordnung ihrer Tätigkeit als Stil in ihrer Mehrheit vermutlich abgelehnt hätten), das städtebauliche Konzept beruht jedoch auf dem Verwerfen des Zeilenbaus und der aufgelösten Blöcke, vielmehr folgen sie der von Sitte inspirierten straßenparallelen Blockrandbebauung. In Budapest haben sich seit 1932 ein von Ferenc Harrer (dem Vordenker der Stadtentwicklungspolitik und geistigen Vater des späteren, stadtentwicklungs- und bodenpolitisch überaus progressiven ungarischen Baugesetzes) geleiteter Sonderausschuss der Stadtverordnetenversammlung und das Stadtplanungsamt intensiv mit den verschiedenen Bauweisen und der dadurch möglichen Dichte befasst (im Einzelnen: Sipos András, A jövő Budapestje 1930-1960, Budapest 2011).

 

In Ungarn sind u.a. deswegen keine, mengenmäßig mit den Wohnungsbauprogrammen in Berlin, Hamburg oder Frankfurt vergleichbaren Großsiedlungen entstanden, weil es keine Finanzierungsinstrumente (insbesondere die „Gebäudeentschuldungssteuer”) wie in der Weimarer Republik gab. Einige unmittelbare staatliche Investitionen sowie jene der Landessozialversicherungsanstalt (Országos Társadalombiztosítási Intézet, OTI), des „Fonds für den Schutz des Volkes und der Familie” (Országos Nép- és Családvédelmi Alap, ONCSA), von Großunternehmen und Kirchen konnten – trotz häufig hervorragender architektonischer Qualität – mengenmäßig nicht mit dem Deutschland der Weimarer Republik mithalten.

 

Zu den frühen Beispielen einer „public private partnership” gehört der Versuch der Hauptstadt Budapest seit 1925, sich in Kooperation mit investierenden Banken bei garantierten Mieten Belegungsrechte zu sichern. Dies erwies sich wegen zu hoher Mieten nicht als erfolgreich, daher kaufte die Hauptstadt die in dieser Konstruktion errichteten Wohnungen und begann, wenn auch eher unwillig, die Mieten zu subventionieren. Zu den architektonischen Erfolgen dieser Finanzierungsform gehört z.B. der 1927 an der Bocskai út im XI. Gemeindebezirk erreichtete „Lenke-Hof” mit seiner an der Längsachse geöffneten, viergeschossigen Blockrandbebauung mit architektonischen Details des Expressionismus. In Budapest sind 1926–1928 insgesamt ca. 2500 städtische bzw. später von der Stadt gekaufte Mietwohnnugen errichtet worden, während z.B. allein im Jahr 1932 ca. 5400 Wohnungen als Ergebnis privater Investitionen gebaut worden waren. Im Vergleich dazu betrug in Hamburg, das bevölkerungsmäßig ungefähr so groß wie Budapest war, die Produktion von gefördertem Wohnraum im Durchschnitt der Jahre 1924-1929 jährlich mehr als 10.000 Wohnungen. Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, dass vom Budapester Publikum mit dem Begriff des Bauhauses zuvörderst die in der Neuen Leopoldstadt (Újlipótváros), am Margarethenring (Margit körút) und an ähnlichen Orten als Summe individueller Investitionen in straßenparalleler Blockrandbebauung entstandenen Ensembles assoziiert werden (ganz zu schweigen von den eleganten Villen im Ofner Bergland, die von Farkas Molnár, József Fischer und ihren Zeitgenossen entworfen worden waren), nicht aber die Großsiedlungen der Weimarer Republik. An diese erinnert am ehesten eine Häusergruppe der Landessozialversicherungsanstalt (OTI) aus dem Jahr 1934 am heutigen II. János Pál pápa tér in Budapest.

 

 

Die „Smart City“ und die „Leipzig-Charta 2.0“

 

 

Es ist offensichtlich, dass man mit einer gelungenen städtebaulichen Raumbildung nicht alle Probleme der Stadtentwicklung ein für allemal lösen kann – aber im Hinblick auf die Identifikation der Bürger mit ihrer Stadt, auf die Wiedererkennbarkeit, ja, die Heimat hat sie allemal eine erhebliche praktische Bedeutung. Und hier kehren wir zu den Idealen von Camillo Sitte zurück: die dicht – aber nicht zu dicht – bebaute, zugleich mit anspruchsvoll gestalteten öffentlichen Flächen ausgestattete Stadt ist nicht nur flächensparend, sondern auch energiesparend und umweltfreundlich, ja sogar im Betrieb wirtschaftlich. Ein solches Konzept wird z.B. auch in Budapest dringend benötigt, wo die bessere Nutzung des „Rostgürtels“ für die Schaffung neuer, urbaner Schauplätze, Wohn- und Arbeitsstätten, an der Hand liegt. Selbst der etwas modische Begriff der „Smart City“, der auf die in ihren Dimensionen noch gar nicht ganz überschaubaren Prozesse der Digitalisierung abhebt, kann mit Sitte in Zusammenhang gebracht werden. Der digitale Wandel ist neben dem demographischen Wandel und dem Klimawandel ein weiterer säkularer Trend, der in der „Leipzig-Charta“ von 2007 mangels Absehbarkeit seiner Bedeutung noch nicht angemessen berücksichtigt werden konnte, es spricht jedoch alles dafür, dass er in der „Leipzig-Charta 2.0“, die während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 beschlossen werden soll, eine wichtige Rolle spielen wird. Die Stadt von Sitte kann jedoch mit Fug und Recht insofern als „smart“ bezeichnet werden, weil sie die Zweckmäßigkeit mit der Schönheit und der Dauerhaftigkeit in Verbindung bringt, und seit Vitruv sind das die Maßstäbe jeglicher Bautätigkeit.

 

 

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